E. Kuen: Politische Botschaft und ästhetische Inszenierung

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Titel
Politische Botschaft und ästhetische Inszenierung. Aspekte der Opernlibrettistik am Hofe Max II. Emanuels von Bayern 1685–1688


Autor(en)
Kuen, Elisabeth
Anzahl Seiten
XIV, 295 S.
Preis
€ 35,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Margret Scharrer, Institut für Musikwissenschaft, Universität Bern

Elisabeth Kuen wendet sich in ihrer Dissertation einem Gegenstand aus literatur- bzw. sprachwissenschaftlicher Perspektive zu, der sonst nur wenig Beachtung findet: dem Libretto. Das mag daran liegen, dass dieses Genre für gewöhnlich nicht zu jenen künstlerischen Produkten gezählt wird, mit denen die Literatur- oder Musikwissenschaften besonderes Prestige oder künstlerisches Können verbinden. Vielmehr sieht man darin oft ein „Massen-„ oder in Konventionen erstarrtes „Kunstprodukt“, dessen eigentliche Qualität in der Musik liegt. Deutlich wird diese Wertung beispielsweise darin, dass bei Erwähnungen musikdramatischer Werke zuweilen nur die Komponist:innen, nicht aber die Dichter:innen genannt werden. Tatsächlich sind musiktheatrale Kompositionen aber komplexe Schöpfungen, die auf verschiedene Medien und „Autor:innen“ zurückzuführen sind. Entsprechend komplex gestalteten sich Anlage und Deutungsebenen. Letztere sind es, denen sich Kuen mit Blick auf die politische Dimension zuwendet.

Ort, Zeitspanne und Kunstwerke, die in ihrer Untersuchung im Fokus stehen, bewegen sich in sehr eng bemessenem Rahmen. Analysiert werden drei Opernlibretti, die für den Hof des bayerischen Kurfürsten Max II. Emanuel zwischen 1685 und 1688 entstanden: Servio Tulio, Alarico Il Baltha und Niobe Regina di Tebe. Alle drei drammi vertonte Agostino Steffani im Auftrag des Kurfürsten. Während der Text des ersten Librettos von Ventura Terzago, einem Halbbruder des Komponisten, stammt, schuf Lodovico Orlandi die Texte zu den anderen beiden Werken. Die beiden ersten Münchner Opern entstanden anlässlich herausragender Festanlässe – Servio Tulio zur bereits erwähnten Hochzeit, Alarico Il Baltha zum Geburtstag von Kurfürstin Maria Antonia. Niobe war hingegen wohl für die höfische Karnevalssaison gedacht. Alle drei Münchner drammi entstanden demzufolge für ganz verschiedene höfische Anlässe. Als Vergleichsfolie, die die Reihe der einzelnen Fallstudien eröffnet, dient Kuen zudem das Musikdrama Il Palladio in Roma aus den Federn Nicolò Minatos (Text) und Antonio Draghis (Musik). Kaiser Leopold I. hatte die Komposition anlässlich der Eheschließung seiner Tochter mit Max Emanuel in Auftrag gegeben. Die Uraufführung fand am 17. September 1685 statt.

Obwohl in den letzten Jahren einige Untersuchungen zur Hofoper Max Emanuels veröffentlicht wurden1, zeigt sich auf diesem Gebiet nach wie vor einiger Forschungsbedarf. Das betrifft auch die Bühnenwerke Steffanis, denen u.a. Colin Timms einige Fallstudien widmet.2 Eines der grundlegenden Probleme der Steffani-Forschung besteht darin, dass nur ein sehr geringer Teil seines Schaffens in sehr betagten bzw. ausschnitthaften Werkausgaben oder in gar keiner Edition vorliegt. Eine kritische Werkausgabe, die Partitur und Libretto einschließt3, wäre demzufolge eigentlich eine der grundlegenden Voraussetzungen für eine vertiefte Auseinandersetzung mit den musikalischen und poetischen Texten, ihren Vorlagen und den Verarbeitungsweisen, und der Inszenierung.4

Kuens Untersuchung stützt sich hauptsächlich auf die italienischen, weniger auf die ins Deutsche übersetzten Libretti, die sich in der Bayerischen Staatsbibliothek München befinden und als Digitalisate einsehbar sind. Überlieferungstechnische Fragen der Libretti spielen für sie keine vordringliche Rolle, auch wenn sie alle relevanten Informationen zu den Werkquellen im „Bibliographischen Verzeichnis“ auflistet. Im Zentrum ihrer Untersuchung steht die literarisch-sprachliche Analyse der Operntexte mit Blick auf die politische Propaganda. Dabei geht sie vor allem der Frage nach, „ob sich Substrate der Politik Max Emanuels in den Libretti seiner Hofoper niederschlugen“ und diese als „Träger von politischen Ideologemen“ fungierten (S. 3f.).

Sie eröffnet ihre Untersuchung mit einem Kapitel, das in den Forschungsstand einführt und die Fragestellung erläutert. Hier wären ausführlichere Darlegungen hinsichtlich der Forschungssituation des Musiktheaters am Hof Max Emanuels, des Librettos und der Quellensituation wünschenswert gewesen, die sie leider auch nicht an späterer Stelle folgen lässt. Die für sie leitenden Problematiken der Absolutismusforschung referiert sie hingegen in den entsprechenden Unterkapiteln. Wesentlich ist für sie Max Webers „Herrschaftstyp“ des charismatischen Herrschers und die damit eng verbundenen Phänomene von „Gentilcharisma“, Erblegitimation und Gottesgnadentum. Ausführlich bespricht die Autorin idealisierende Herrscherbilder, wie sie sich an den Höfen der Habsburger und Wittelsbacher seit dem 16. Jahrhundert entwickelten.

Ein hervorragender Rahmen zur Entfaltung dieser Bilder stellten höfische Feste dar, bei denen sich Herrscher und Dynastien mit den Heldengeschichten mythischer und historischer Ahnen, z.B. in Gestalt von Karl dem Großen oder Herkules, identifizierten. Bezüglich der Librettorezeption stellt Kuen fest, dass diese sich nicht nur im Rahmen der Aufführungen ereignen konnte, sondern auch separat davon, da der Druck der Textbücher eine spätere Lektüre (und Memoria) ermöglichte.

In der Analyse der drei verschiedenen Libretti von Agostino Steffani und ihres Vergleichsbeispiels entfaltet die Untersuchung ihr Potential. Als ein „wichtiges Vorbild“ (S. 61) für die Hofoper der bayerischen Wittelsbacher benennt sie die musikdramatischen Texte des Kaiserhofes. Eine Besonderheit des Wiener Hofes bildeten sogenannte „Schlüssellibretti“, deren eigentliche Botschaften die Hofgesellschaft durch mitgelieferte oder kursierende „Schlüssel“ in Erfahrung bringen konnte.

Konkret geht es Kuen um die verschiedenen Deutungsebenen und das Zusammenspiel von Para- und Haupttexten. Dabei wird offensichtlich, dass die drammi oft mehr als nur eine Deutungsweise erlauben. Zu den wiederkehrenden Idealbildern des „Bühnenhelden“ Max Emanuel, wie sie auch in Erziehungslehren oder Traktistik entworfen wurden, gehöre seine Präsentation als militärisch siegreicher Feldherr, der tapfer gegen die Feinde des Glaubens ins Feld zieht, um Triumphe über die Osmanen zu feiern. Er zeige sich aber auch als tugendhafter, gottesfürchtiger Fürst, der gleich den Habsburgern über eine kaiserwürdige alte Familie verfügte (Anciennitätsprinzip). Ferner werde er als Fürst und „Staatsmann“ in Szene gesetzt, der in schwierigen Situationen in der Lage sei, über sich selbst hinauszuwachsen und für das Allgemeinwohl einzustehen, für den Selbstüberwindung und -kontrolle keine Probleme darstellen und der bereit sei, Milde zu üben. Diese Inszenierungen machten verschiedene politische Ansprüche des bayerischen Kurfürsten greifbar, wie z.B. seine Berufung zu „höheren Ämtern“, und sein Anspruch, dass er den Habsburgern gleichgestellt, wenn nicht überlegen sei. Die Libretti spiegelten zudem die nach der Hochzeit zusehends kompliziert werdende Beziehung zwischen Max Emanuel und Leopold I. wider. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Text von Niobe. Dieser erlaubt u.a. die Deutung des Kaisers als einen der Musik „verfallenen“ Fürsten, der statt seinen herrscherlichen Aufgaben nachzukommen, sich in seiner Kunstkammer einschließt, um sich im Reich der Harmonie zu verlieren.

Die Negativzeichnung des durch Musik verblendeten, verweichlichten und „spleenhaften“ Herrschers wird nur angedeutet; sie gehört aber zu den wichtigen, bereits von der Forschung herausgearbeiteten Ergebnissen.5 Tatsächlich erscheint vor diesem Hintergrund die Übereinstimmung der Anfione-Figur mit Leopold I. wahrscheinlicher als eine Anspielung auf Max Emanuel.

Auch an anderer Stelle vermisst man Bezugnahmen auf die musikgeschichtliche Forschungsliteratur: In Hinsicht auf die Verletzung des Dekorums durch den Selbstmord Anfiones und den Tod der gemeinsamen Kinder auf der Bühne, den die Autorin als außergewöhnlich ansieht, dürfte ein Blick nach Frankreich Aufschluss verleihen. Zahlreiche Parallelen, so z.B. die Fahrt und der Tod von Niobes und Anfiones Kindern im Triumphwagen, das auf superbia beruhende Herrschaftsgebaren, lassen deutliche Bezüge zur Tragédie en musique Phaëton erkennen. Dass Max Emanuel sich nicht nur politisch, sondern auch in musikalisch-musikdramatischer Hinsicht Frankreich öffnete, ist genauso belegt wie, dass musiktheatrale Produktionen als Vehikel zu politisch-dynastischer „Grenzziehung“ instrumentalisiert werden konnten6. In einzelnen Fällen sind Verletzungen dieses Dekorums übrigens genauso aus venezianischen Opern bekannt. Die zu starke Fokussierung der Untersuchung auf das „wichtigste Vorbild“ (S. 61) Wien erweist sich in dieser Hinsicht als zu kurz gegriffen. Insgesamt fällt auf, dass eine „globalere“ Einordnung des Phänomens der politischen Ideologeme in musiktheatralen Werken der Untersuchung zuträglich gewesen wäre, wie auch eine genauere vergleichende Analyse des Zusammenspiels der Anlässe und Libretti.

Im Großen und Ganzen belegt die Studie aber einmal mehr, wie wichtig interdisziplinäre Forschungen für die Musiktheater-, Hof- und Frühneuzeit-Forschung sind und wie sich die verschiedenen Bereiche hier gegenseitig befruchten und ergänzen können; auch der Quellenwert von Libretti für solche Ansätze wird klar vorgeführt. Für künftige Libretto-Analysen kann Kuens Darstellung deshalb sehr gut als Vorbild dienen. Zu begrüßen wäre, wenn ihre Untersuchung den Anreiz zu weiteren Librettoforschungen inner- und außerhalb bayerischer Kontexte gäbe.

Anmerkungen:
1 Siehe u.a. Sebastian Werr, Politik mit sinnlichen Mitteln: Oper und Fest am Münchner Hof (1680–1745), Köln 2010; Stephan Hörner / Sebastian Werr (Hrsg.), Das Musikleben am Hof von Kurfürst Max Emanuel, Tutzing 2012; Margret Scharrer, Zur Rezeption des französischen Musiktheaters an deutschen Residenzen des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts, Sinzig 2014; Carola Finkel, Pierre Dubreil – Biographie und kritische Edition, Berlin 2020. Sebastian Biesold arbeitet an einem Dissertationsprojekt zu „Pietro Torri und das Oratorium an den Höfen der Wittelsbacher um 1700“.
2 Colin Timms, Polymath of the Baroque: Agostino Steffani and His Music, Oxford 2003.
3 Im Rahmen des Akademieprojekts „OPERA – Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen“, das unter der Leitung von Thomas Betzwieser an der Goethe-Universität Frankfurt durchgeführt wird, wird die Herausgabe von Steffanis und Ortensio Bartolomeo Mauros Enrico Leone vorbereitet (URL: <https://www.opera.adwmainz.de/werkauswahl.html>; 17.06.2022).
4 Diese Problematik lässt sich generell für die Situation der Musiktheater-Forschung des bayerisch-kurfürstlichen Hofes im 17./18. Jahrhunderts feststellen.
5 Annette C. Cremer / Matthias Müller / Klaus Pietschmann (Hrsg.), Fürst und Fürstin als Künstler. Herrschaftliches Künstlertum zwischen Habitus, Norm und Neigung, Berlin 2018; Ursula Kramer / Margret Scharrer (Hrsg.), Landgraf Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt (1667–1739): Regentschaft und musikalisch-künstlerische Ambition im 18. Jahrhundert, Mainz 2019.
6 Siehe Anm. 1 sowie Sabine Henze-Döhring, Kunst als Medium dynastischer Grenzziehung: italienische Opern an deutschen Residenzen, in: Musikkonzepte – Konzepte der Musikwissenschaft, Bd. 1, hrsg. von Kathrin Eberl u.a., Kassel 2000, S. 161–171.

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